Marktregelung in schwerster Zeit

Konsumgenossenschaft Dortmund-Hamm
Ein beachtlicher Faktor des Wiederaufbaues.

Wenn über die Menschheit eine furchtbare Katastrophe hereinbricht, dann ist das Chaos in unvorstellbaren Auswirkungen besonders dann zu erwarten, wenn drei Probleme nicht schnellstens gelöst werden können, nämlich: Wohnung, Bekleidung und Ernährung. Die Lösung dieser drei Fragen war die größte Sorge der verantwortlichen Menschen im April 1945 für unsere, auch noch nach dem Zusammenbruch stark bevölkerte Stadt, denn wir hatten trotz aller Zerstörungen und Trümmer in jenen turbulenten Tagen Menschen zu versorgen, und an erster Stelle war die Frage der Ernährung zu lösen.

Man kann rückschauend sagen, daß alle verantwortlichen Kreise jener Zeit, denen es oblag, die Ernährung sicherzustellen, mit größten Anstrengungen versucht haben, die aufs äußerst gefährdete Versorgung der Verbraucher zu sichern.

Zu diesem Kreis der hilfebietenden Unternehmungen gehörte ganz selbstverständlich auch die Konsumgenossenschaft Dortmund-Hamm. Die Geschäftsleitung war sich bewußt, daß sie gerade jetzt wieder ganz besonders wirksam bei der Versorgung der Bevölkerung in Erscheinung treten mußte. Es war eine schwierige Aufgabe. In den Apriltagen 1945 standen der Genossenschaft, die ehemals ihr Verteilungsstellennetz durch 35 Lastwagen versorgen konnte, nur noch fünf fahrbereite Wagen zur Verfügung. Die Schienenwege waren meistens zerstört, die Brücken über Lippe und Ruhr gesprengt. Aus dem Westen war nichts zu holen, aus dem östlichen Gebiet konnten nur unter Überwindung größter Schwierigkeiten Nahrungsmittel herbeigeschafft werden. Was in den ersten lagen nicht geplündert und gestohlen wurde, wurde in kleinen Rationen in den nächsten Wochen zur Verteilung gebracht. Die Umsatzentwicklung jener Zeit gibt ein anschauliches Bild über die Versorgungslage der Bevölkerung.

Im Jahre 1944 betrug der durchschnittliche Monatsumsatz in der Genossenschaft noch 1 200 000 Mark. Dieser sank noch dem Zusammenbruch im Monat April 1945 auf 493 000 Mark, im Mai auf 544000, im Juni auf 585 000 Mark und ist im Dezember 1945 knapp auf 1 Million Mark gestiegen.

Während in der Genossenschaft früher die Verteilungsstellen mit Waren nur durch die Zentrale versorgt wurden, erhielten jetzt alle Verteilungsstellen-Leitungen vom Vorstand die Anweisung, alle Möglichkeiten der Warenbeschaffung durch Selbsteinkauf wahrzunehmen. Die Warenzufuhren konnten ausschließlich nur durch eigene Lastwagen durchgeführt werden. Dabei befanden sich die Fahrzeuge meist in einem schauderhaften Zustand. Die größte Schwierigkeit bestand in der Beschaffung von Reifen. Die wenigen Waggons, die durch die Reichsbahn noch zugestellt wurden, waren fast restlos beraubt. Man ging schließlich dazu über, daß in den Waggons neben der Ware auch noch Wachmannschaften untergebracht werden mußten, um die Diebstähle zu verhindern. Auch die Lastzüge mußten außer den Einkaufsbeamten noch mit handfesten Männern besetzt werden, weil die Überfälle auf den Landstraßen zu den täglichen Begebenheiten gehörten. War es schließlich mühsam gelungen, die dringendsten Lebensmittel herbeizuschaffen, so war ein neuer großer Übelstand der, daß von unserem Zentrallager wertvolle Ware, besonders Textilien, durch die amerikanischen Wachmannschaften entwendet wurde. Alle Klagen und Beschwerden bei den militärischen Behörden waren erfolglos. Eine Änderung trat erst ein, als die amerikanischen Besatzungstruppen am 5. Juni 1945 durch englische Besatzungstruppen abgelöst wurden. Unter dem Schutz der englischen Wachmannschaft erfolgte weder eine Beschlagnahme noch eine Entwendung der Warenvorräte aus den Verteilungsstellen und Zentrallägern.

Unabhängig von den der Bevölkerung durch die Behörden zugeteilten Warenmengen hat die Genossenschaft eine eigene Rationierung vorgenommen, um möglichst allen von ihr versorgten Menschen einen gewissen Warenanteil zu sichern. Die dazumal aufgerufenen Waren an Brot und Nährmitteln, ganz zu schweigen von Fleisch und Fettwaren, konnten in Höhe der Aufrufe nämlich gar nicht zur Ausgabe gelangen, weil die Waren einfach nicht vorhanden waren. Täglich waren die Beamten der Einkaufs-Abteilung unterwegs, um in den Herstellungsbetrieben und Erzeugergebieten jede Möglichkeit der Warenbeschaffung aufzugreifen.

Allwöchentlich fanden sich die Vertreter der Dortmunder Großhandelsfirmen im Stadthaus zusammen, um nach Mitteln und Wegen zu suchen, der Nahrungsschwierigkeit Herr zu werden. Es sei nicht unerwähnt, daß manche Schwierigkeit durch die entschlossene Haltung und Entscheidung des damaligen außerordentlich rührigen Ernährungsdezernenten, Herrn Dr. Wetz, in Verbindung mit seinem Mitarbeiter, Herrn Amtmann Hüske, überwunden werden konnte.

Das Jahr 1946 brachte zwar wieder etwas mehr Ordnung in die chaotischen Zustände, aber die Lebensmittelversorgung hatte sich nicht gebessert. Im Gegenteil, es trat eine Verschlechterung ein, denn im Jahre 1945 war immerhin noch eine gewisse Warenreserve aus der kriegsbedingten Vorratswirtschaft vorhanden. Diese Vorräte waren bis zum Ende des Jahres völlig aufgezehrt, und die Bevölkerung konnte für 1946 nur noch aus der kümmerlichen Ernte des Jahres 1945 versorgt weiden. Die Nahrungsmittel wurden immer wert- und gehaltloser. Nach den amtlichen Erlässen erhielten zu Beginn des Jahres 1946 die Normalverbraucher noch ‚1537 Kalorien. Die Zuteilungen sanken aber in der Mitte des Jahres auf 1020 Kalorien. In Wirklichkeit konnten aber selbst nach amtlichen Verlautbarungen zeitweise nur 800 Kalorien verabfolgt werden, weil die aufgerufenen Waren einfach nicht beschafft werden konnten. Vor allen Lebensmittelläden bildeten sich Käuferschlangen, die stundenlang auf ihre geringe Zuteilung an Waren warten mußten. In den Hungerjahren 1946 bis 1947 wurden in der Woche 50 Gramm Fett, 75 bis 100 Gramm Fleisch, 1500 bis 2500 Gramm Brot, 150 Gramm Zucker, 30 Gramm Käse, 300 Gramm Nährmittel zugeteilt. Dabei bestanden die Nährmittel vielfach aus minderwertigen Ersatzstoffen, aus Produkten, die normalerweise als Viehfutter Verwendung finden, wie Mais, Milogrütze, Gerste, Kartoffelvvalzmehl. Dem Brot, das schon aus schlechtem Mehl hergestellt wurde, mußten bis zu 601’o Mais zugesetzt werden.

Die Sorge um das tägliche Brot hielt die Menschen von ihrer sonst üblichen Arbeit im stärksten Maße zurück. Alles befand sich auf der Jagd nach Lebensmitteln. Die spärlich fahrenden Züge waren überfüllt von Hamsterern, die erhofften, durch Geld und gute Worte auf dem Lande etwas zu erreichen. Die Stadtbevölkerung trennte sich von allen versetzbaren und tauschbaren Gegenständen, von Wäsche und Bekleidung. Sie trugen sie hinaus in die landwirtschaftlichen Bezirke, um ihr Hab und Gut gegen Lebensmittel eintauschen zu können. Aus eigener Erzeugung und eigener Herstellung konnte die Bevölkerung sich nicht entfernt ernähren. Die Besatzungsmächte mußten deshalb Lebensmittel einführen, aber die Zuteilungen waren so gering, daß der Gesundheitszustand der Menschen und vor allen Dingen der Kinder sich von Monat zu Monat verschlechterte. Die Sterblichkeit nahm einen bedrohenden Umfang an. Der völlige Ernährungszusammenbruch drohte sich jeden Augenblick zu vollziehen. Damit wäre Chaos, Anarchie, Raub und Totschlag verbunden gewesen. Dieser gefährliche Fieberzustand klang erst etwas ab, als die ersten Mehlzufuhren aus USA eine geringfügige Verbesserung der Ernährung erlaubten. Aber auch im ersten halben Jahr 1948 war die Bevölkerung noch völlig unterernährt. Nur derjenige, der wertbeständiges Gut in Zahlung oder Tausch geben konnte, hatte Aussicht, neben den rationierten Lebensmitteln sich zusätzlich irgendwelche eßbaren Waren zu beschaffen. Das Geld in der Form der Reichsmark wurde mißachtet. Die Mark galt nicht mehr als vertrauenswürdiges Zahlungsmittel, um so mehr, als bereits im Jahre 1947 die erhebliche Abwertung teils durch deutsche, teils durch alliierte Äußerungen angekündigt wurde. Dieses Mißtrauen zum Gelde führte zu einer Warenzurückhaltung, die das kümmerliche Wirtschaftsleben fast völlig lahmlegte.

Dieser Zustand brachte aber auch noch eine weitere üble Begleiterscheinung mit sich. Seit 1939 durften die Menschen in Deutschland nur noch die ihnen behördlich zugeteilten Rationen verzehren. Wie schon geschildert, wurden diese Rationen nach dem Zusammenbruch immer kleiner, aber immer größer wurde die Zahl jener Zeitgenossen, die die Notlage des Volkes ausnutzten und einen schwunghaften Schwarzhandel betrieben. Für begehrte Lebensmittel wurde – zumal wenn es sich um Fettwaren handelte – bis zum Hundertfachen des normalen Preises verlangt und bezahlt. Schwarz- und Tauschhandel war ein blühendes Geschäft. Wer es nicht gewissenhaft nahm, konnte mit der Veräußerung von einem halben Pfund Butter seine Ladenmiete für einen ganzen Monat bezahlen. Die Strafandrohungen wegen Übertretung dieser Bewirtschaftungsgesetze hatten nur eine geringe Wirkung. Aber auch das sei hier bei dieser Schilderung betont, daß die Konsumgenossenschaft in all den Bewirtschaftungsjahren nicht mit einem Kilo Fehlmenge eine Gutschrift von den Behörden erwirken mußte.

Aber nicht nur durch Hamstern, Tausch- und Schwarzhandel war diese üble Zeit gezeichnet, auch Einbrüche und Diebstähle nahmen beängstigende Formen an. Die Genossenschaft hatte im Jahre 1945 in ihren Verteilungsstellen 209 Einbrüche und 50 Einbruchsversuche zu verzeichnen, sechsmal wurde in der Zentrale eingebrochen. Im Jahre 1946 waren es 126 Einbrüche und 109 Einbruchsversuche dank der verbesserten Sicherungen. An der Zentrale waren vier Einbrüche erfolgt. Im Jahre 1947 waren es 36 Einbrüche in den Verteilungsstellen und 40 Einbruchsversuche und ein Einbruch in der Zentrale. 1948 waren es 11 Einbrüche in den Verteilungsstellen und 19 Einbruchsversuche. 1949 hatten wir nur noch sechs Einbruchsversuche zu registrieren. In diesen fünf Jahren des Wiederaufbaues waren also 394 Einbrüche und 224 Einbruchsversuche zu verzeichnen.

Wie Direktion und Belegschaft der Konsumgenossenschaft Dortmund-Hamm sich für das Allgemeinwohl eingesetzt haben, geht daraus hervor, daß mit einer Reihe von NachbarUnternehmungen Geschäftsleitung und Belegschaft bereit waren, in freien Stunden und an Sonntagen die Bornstraße wieder fahrbar herzustellen. Der Schutt in der Straße wurde beseitigt, die Löcher und Bombentrichter zugeworfen, und unter fachkundiger Anleitung wurden die Masten für die Oberleitung der Straßenbahn gesetzt. Dank des Fleißes dieser Notgemeinschaft konnte am 25. März 1946 behelfsmäßig die erste Straßenbahn, Strecke Bornstraße, wieder in Betrieb genommen werden. An der Spitze dieser freiwilligen Hilfe stand die Konsumgenossenschaft Dortmund-Hamm, aber auch Betriebsleitungen und Belegschaften von acht weiteren Unternehmungen haben diesen freiwilligen Arbeitsdienst mit großem Eifer verrichtet.

Rückschauend darf festgestellt werden, daß die Genossenschaft in diesen fünf Johren des Wiederaufbaues sehr Beachtliches geleistet hat. Mit ihren Einrichtungen und ihren Menschen trug sie nach besten Kräften dazu bei, den notleidenden Menschen unserer Stadt zu helfen und das Ärgste abzuwenden. Das Unternehmen, das unter den Kriegseinwirkungen stark gelitten hatte, wurde mit der Opferbereitschaft der Mitglieder wieder aus eigenen Mitteln aufgebaut. Dem Zentrallager gingen 4000 qm Lagerfläche durch Bombentreffer verloren. im Jahre 1949 war der Lagerbau wiederhergestellt. Das Verwaltungsgebäude war vollständig ausgebrannt. Heute verfügt der Betrieb wieder über vorbildliche Büroräume und einen schön ausgestatteten Konferenzsaal. Auch die Werkstätten waren zum größten Teil zerstört. Sie sind inzwischen wieder errichtet. Die Betriebszentrale hatte 40°i° Kriegsschäden erlitten. Heute sind sie zum größten Teil wieder behoben. Von den Verteilungsstellen waren 34 total zerstört und drei durch die Besatzungstruppen beschlagnahmt. Bis zum Ende des Jahres 1949 konnten 26 Verteilungsstellen wieder neu aufgebaut und neun Verteilungsstellen neu eröffnet werden.

Insgesamt betrachtet wurde durch die Konsumgenossenschaft Dortmund-Hamm ein beachtliches Stück Aufbauarbeit geleistet. Verwaltung und Belegschaft glauben , ihren angemessenen Teil beigetragen zu haben und auch noch künftig zu leisten, damit die schweren Wunden, die der Stadt zugefügt wurden, in absehbarer Zeit wieder verheilen.

Quelle: Von der toten zur lebendigen Stadt