In Sicherheit?
Gesammelte Erkenntnisse über die man nicht redet
Meinung und Kommentar von Wilfried Maehler
Hier an dieser Stelle möchte ich einmal ein Thema anschneiden, über das man eigentlich nicht so spricht, das man aber auch nicht mehr verschweigen sollte.
Wer den Luftschutz und Luftschutzbauten dokumentiert, findet ab und zu in den alten Akten u.a. Briefe von Privatpersonen, meist sind es Beschwerden, aber gelegentlich finden sich in diesen Texten auch Hinweise wie es damals so war. Zeitzeugen sind natürlich auch eine gute Quelle, wenn man über allgemeine Situationen berichten will. Aber hier ist mir die Tendenz aufgefallen, daß die Zeitzeugen öfters über Unglücke berichten, die sich anderenorts zugetragen haben. Bei den Zeitzeugen selbst lief alles fast immer ruhig ab im Luftschutzraum.
Wer in der heutigen Zeit Kriegsfilme betrachtet oder gar Antikriegsfilme gemütlich vom Fernsehsessel aus sieht, sich im Kino in Zeitlupe herumfliegende Kugeln anschaut, die langsam in menschliche Körper eindringen, auf der anderen Seite mit Blut und Fleischfetzen wieder austreten, kann sich kaum vorstellen, daß dies noch lange nicht das gesamte Leiden eines Krieges darstellt.
Der zivile Luftschutz sollte eigentlich diejenigen vor den Auswirkungen der Waffen schützen, die nicht an der Front waren. Mütter, Kinder, Greise und Invaliden, Arbeiter und Angestellte die von der Kriegsmaschinerie noch nicht gebraucht und verbraucht wurden.
Wenn die Alarme losgingen, Sirenen mit ihren markanten Heultönen in Städten und Gemeinden die Menschen veranlaßten alles stehen und liegen zu lassen um sich in die Luftschutzräume zu begeben, begannen für viele Menschen auch peinliche Zeiten.
Sich vorzustellen, daß schon kurze Zeit nach dem Sirenengeheul brummende Geräusche am Himmel zu hören waren ist nicht schwer. Das waren die Bomber mit ihrer tödlichen Ladung an Bord. Und wenn der Alarm nicht rechtzeitig ausgelöst wurde, was schon mal vorkam, befanden sich die zu den Luftschutzräumen eilenden Menschen noch lange nicht in Sicherheit.
Und dann, wenn die ersten Bomben fielen, vielleicht noch etwas weiter weg, bekamen die Menschen zumindest den Luftknall zu spüren, in echt – drohend und gefährlich.
Wer kann diese Gefühle im Kino nachempfinden, im gemütlichen Sessel bei Chips und Cola ? Aber die Menschen hatten in solchen Situationen nur eines – Angst , unsagbare pure Angst.
Wer allerdings solche Angst hat, daß das Blut gefriert, dem versagen die Schließmuskel von Blase und Darm recht schnell. Die Hosen sind naß und voll, die Leute erreichen den Eingang zum Luftschutzraum und schon kommt das nächste Problem. Kein Einlass unter diesen Gegebenheiten. Der Luftschutzordner mit einer Armbinde als solcher zu erkennen, achtet pflichtbewußt darauf. Die “besudelte” Kleidung muß aus Hygienegründen in einen Mülleimer, der passender Weise vor oder in der Schleuse steht. Die Leute stehen nun da, ohne Hosen und ohne Unterwäsche und so mancher sitzt im Luftschutzraum mit einem Sackstoff oder Vorhang bekleidet. Darüber redet “man” auch nicht, verdrängt diese peinliche Situation.
Dafür bekommt der Kriegsfilm – Betrachter zu sehen, wie Staub von der Decke rieselt, Bomben fallen – sehr dramatisch. Fehlt nur das Pullover strickende Mütterchen, das bei jedem Bombenknall mal müde lächelnd aufschaut. Solche Situationen sind nicht real.
In einem überbelegten Stollen – Schutzraum ist herabrieselnder Staub sowieso unmöglich. Feuchter Beton, Fels und Steine, dazu die Ausdünstungen der menschlichen Körper – es tropft in der Realität überall von der Decke – kein Staub – noch nicht einmal ein Stäubchen wird jemals von einer durchnässten Stollendecke rieseln, und wenn, dann fallen ganze Steine herunter.
Es riecht nach Schweiß und ist Angstschweiß. Aber so etwas ist viel zu peinlich zum erzählen, nicht hart genug – und wem will man von seiner Angst und Panik berichten? Den Enkelkindern vielleicht, die gerne Kriegsfilme sehen, wie die Helden eiserne Kreuze an die Brust geheftet bekommen. Undenkbar dass der Opa kein Held war und welcher liebe Großvater möchte schon seine Enkelkinder enttäuschen?
Aber das Schamgefühl wurde noch viel weiter strapaziert.
Z.B. in den Luftschutzstollen. Schmale und enge Gänge unter der Erde. Links und rechts befinden sich Sitzbänke. In der Mitte ist ein wenig Platz, manchmal bleiben nur 80 cm zum durchgehen. Und wenn die Menschen hier stundenlang ausharren, haben sie natürlich auch das menschliche Bedürfnis, eine Toilette aufsuchen zu müssen. Toiletten oder Aborte wie man früher sagte waren in den meisten Stollenanlagen vorgesehen und eingebaut. Meist kamen die Abortbereiche kurz nach der Schleuse, wegen dem eventuell anfallenden Geruch.
Die Vorstellung, wie sich Menschen in einem vollen Stollen zwischen den Bänken hindurch an anderen vorbeidrängen müssen, um eine Toilette aufzusuchen ist schon bedrückend, zumal es sich in solch einer Situation bestimmt jeder so lange verkneift, bis der Druck groß ist, sozusagen nicht mehr zum aushalten.
Aber auch das ist nur eine vergleichsweise harmlose Situation. Schlimmer war es, wenn die Alarme losgingen, die Bomber zu hören waren und die Menschen vielleicht sogar die Bomben fallen sahen und die explodierenden Bomben spürten. Ein traumatisches Erlebnis an das sich kein normaler Mensch gewöhnen kann.
Und welche Auswirkung hat eine solche Situation? Wer einigermaßen hart war im nehmen, schaffte es vielleicht noch mit trockenen Hosen in den Schutzraum zu kommen. Aber dann – vergleichbar mit einem Unfall im Verkehr, im Haushalt oder auf der Arbeit, den schon viele erlebt haben, muß man meist innerhalb von ca. 10 Minuten dringend eine Toilette aufsuchen.
Wer das hier nun liest, sollte sich Gedanken machen und sich vorstellen, wie es gewesen sein könnte, wenn die Schutzsuchenden im Schutzraum ihre Plätze eingenommen hatten und innerhalb von 10 Minuten wegen der nun etwas abfallenden Anspannung alle fast gleichzeitig zum Abort mußten. Das sind die Auswirkungen von Krieg über die man so nicht spricht und die nirgends gezeigt werden.
Das Gedränge vor dem Aborten wäre riesig – und die Warteschlange so lang wie der Stollen, denn alle mußten mal.
Aber um dieses Gedränge und unnötige Bewegungen in den Stollen zu verhindern, gab es eine Lösung und die hieß NOTABORTE. Und diese Notaborte wurden zwischen die einzelnen Luftschutzbänke gestellt. Und somit konnten die Schutzraumnutzer an jedem Ende der Luftschutzbank ihr “Geschäft” verrichten. — Aber es gab keinen Schlüssel zum abschließen wie heutzutage, wenn man auf die Toilette geht, um ungesehen und ungestört zu sein bei dieser wichtigen Angelegenheit. Auch ein Vorhang durfte nicht davor gehängt werden, wegen dem sonst gebremsten Wetterstrom. Jeder schaute zu – und das trifft das Schamgefühl mehr als tief und deswegen redet “man” auch nicht darüber.
Mit der Entwarnung wurden solche Situationen in der tiefsten Seele verdrängt – schnell vergessen und nie wieder darüber reden.
Auch das ist ein Teil der Geschichte, zwar verdrängt, aber ein Teil von Krieg und Zerstörung und von Haß und Gewalt.
Vielleicht finden sich ja noch ein paar der wenigen verbliebenen Zeitzeugen, die sich an ihre Gefühle in solchen Situationen erinnern können und wollen.